Dr. Martina Melzer, veröffentlicht: 30.11.23
Im September fragte mich Charlotte aus England, ob ich an einem Projekt teilnehmen möchte. Sie befrage Menschen, welche drei Dinge ihnen am meisten geholfen hätten,
um wieder gesund zu werden. Natürlich machte ich mit – auch wenn das
Ganze auf Englisch war und ich noch nicht ganz genesen. Ihre Webseite heißt „Living with ME/CFS“.
So kam mir die Idee, diese drei Komponenten auch nochmal auf meiner Webseite zu teilen.
Erste Komponente: Vergangenheit aufarbeiten
Ja, in meinem Fall war es nötig, mich über zwei Jahre mit meiner Vergangenheit zu beschäftigen, beginnend mit der Kindheit. Es waren zwei entsetzliche Jahre. Ich wurde sicherlich viele Male retraumatisiert, was rückblickend natürlich nicht sonderlich hilfreich war. Aber ich musste aufarbeiten, was alles passiert war. Ich musste verstehen, warum ich mich so sehr von mir und meinem Körper abgespalten hatte. Ich musste einsehen, dass es einen narzisstischen Menschen in meinem Leben gibt, der so viel kaputt gemacht hatte – auch wenn es nicht böswillig war. Ich musste mir klarmachen, warum ich mich permanent überforderte, immer über meine Grenzen ging, so ein Leistungsmensch war, mich so unter Druck setzte, so viel Angst spürte, voller Schuld und Scham war.
Ich musste Zugang zu meiner maximal unterdrückten Wut und Trauer finden. Ich musste erkennen, weshalb auch viele traumatische und belastende Einzelereignisse zu meinen Erkrankungen beitrugen – und das Pfeiffersche Drüsenfieber einfach das letzte Ereignis war, welches das Fass zum Überlaufen brachte. Meine Vergangenheit holt mich täglich wieder ein, weshalb dieser Prozess wohl etwas Längerfristiges ist. Ich wünsche dir, dass du nicht so tief graben musst wie ich und nicht so viel innere Arbeit machen musst. Aber etwas innere Arbeit wird immer nötig sein. Davon bin ich überzeugt.
Zweite Komponente: Gehirn und Nervensystem aus dem Überlebensmodus holen
Auch für mich war und ist es unerlässlich, die fehlgesteuerten Nervennetzwerke im Gehirn wieder in Balance zu bringen. Dem Gehirn beizubringen, dass es nicht alles Mögliche als gefährlich bewerten muss und deshalb auch nicht ständig in den Überlebensmodus gehen muss oder gleich ganz darin festhängt – quasi als Standardzustand. Auch ich habe also viel Gehirntraining gemacht. Aber es brachte nie den Durchbruch. In meinem Leben war so viel los, dass ich im Dauerstressmodus und im Dauerangstmodus blieb. Mein Nervensystem war immer noch erstarrt, oder pendelte zwischen Erstarrung und ganz abschalten. Mit Gehirntraining schaffte ich es immerhin, mir mit meinen Symptomen und Syndromen keinen Stress mehr zu machen. Aber zur Ruhe fand ich nicht. Eine innere Balance war unerreichbar.
Erst durch TRE, also Trauma and Tension Release Exercise, zu Deutsch: neurogenes Zittern, taute mein Nervensystem aus der Erstarrung auf. Und zwar rasend schnell. Und dann halfen plötzlich auch alle mentalen (top down) und körperlichen (bottom up) Gehirntrainingtechniken, die ich gelernt hatte. Genau zum richtigen Zeitpunkt machte ich auch noch das Safe and Sound Protocol von Stephen Porges, was mich mehr und mehr in den gesunden Teil meines Nervensystems brachte. Mein Nervensystem ist nach wie vor sensibel und geht sehr schnell in den Gefahrenmodus. Aber es ist flexibler geworden. Es pendelt zwischen Sicherheit und Gefahr. Es lässt Sicherheit zu. Ich merke sofort, wenn ich in den Überlebensmodus gehe und kann mich wieder herausholen.
Dritte Komponente: Ändern, was ich ändern musste
Der dritte wichtige Baustein meiner weitgehenden Genesung waren zahlreiche Veränderungen. Das war (und ist) eine Herausforderung. Es hat natürlich ständig wieder den Überlebensmodus getriggert und mich andauernd in die Vergangenheit katapultiert. Aber ich musste mich ändern, meine Denk- und Verhaltensmuster umtrainieren. Ich musste lernen, meine Grenzen zu respektieren und anderen Menschen Grenzen zu setzen. Ich musste mich aus toxischen Beziehungen lösen, Abstand zu bestimmten Menschen aufbauen, Freundschaften überdenken, meinen Job kündigen, mich aus meiner Co-Abhängigkeit befreien, die ich mit diesem narzisstischen Menschen hatte. Ich musste wirklich die Dinge ändern, die ich ändern konnte.
Nun bin ich dabei zu akzeptieren, was ich nicht ändern kann. Ich bin dabei, meine Einstellung zu vielen Dingen zu ändern. Zu allen Dingen, die mich permanent
stressen. Ich musste mein ganzes Leben auf den Kopf stellen. Ich wünsche dir, dass du nicht so viel ändern musst. Aber wenn es nötig ist, mach es!
Daneben haben mir natürlich auch Dinge wie Pacing, Ernährung, ein auf Genesung ausgerichtetes Mindset, etc. geholfen. In meinen Coachings und meinem Selbsthilfeprogramm „Mind-Body-Balance“ teile
ich die wichtigsten Strategien und Faktoren mit dir. Damit auch du wieder gesund wirst – zumindest so gesund wie möglich!