Was heißt eigentlich „Nervensystem regulieren“?

Dr. Martina Melzer, veröffentlicht: 30.11.23

 

Wichtige Hinweise vorab:

 

  • Bei sogenannten Mind-Body-Syndromen finden sich in Spezialuntersuchungen zwar oft Auffälligkeiten, es kommt aber normalerweise zu keinen Organ- oder Gewebeschäden.

 

  • Neue Symptome immer gründlich ärztlich abklären lassen. Es kann ein Mind-Body-Syndrom dahinterstecken, aber auch eine andere Krankheit, oder es ist eine Kombination aus beidem.

 

Nach meinem Verständnis geht es beim Nervensystem regulieren um Folgendes: Unser autonomes Nervensystem besteht aus dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Der Parasympathikus, auch Vagusnerv genannt, besteht gemäß Polyvagal-Theorie aus zwei Teilen, dem ventralen und dem dorsalen Vagus.

Die wesentliche Funktion des autonomen Nervensystems ist, unseren gesamten Organismus der aktuellen Situation anzupassen. Fühlen wir uns sicher und sind aktiv, befindet sich der Sympathikus in einem gesunden Modus und der ventrale Vagus ist angeschaltet. Fühlen wir uns sicher und ruhen, sind ventraler und dorsaler Vagus an.

Droht in unserer Wahrnehmung Gefahr, geht der Sympathikus in den Kampf- oder Fluchtmodus, was kurzzeitig überlebenswichtig sein kann, auf Dauer aber ungesund ist. Sind Kämpfen oder Fliehen nicht möglich, fährt der dorsale Vagus hoch und versetzt uns in eine Art Schutzmodus. Sympathikus und Parasympathikus befinden sich nicht mehr in einem gesunden Gleichgewicht, sondern sind außer Balance geraten. Der ganze Organismus wird auf „Überleben“ angepasst.

Ist die Gefahr vorüber, beruhigen sich beide Teile wieder und gehen zurück in ein gesundes Gleichgewicht. Dazu muss man sich sicher genug fühlen. Je nachdem ob wir aktiv sind oder ruhen, ist der Sympathikus oder der Vagus aktiver. Ein gesundes autonomes Nervensystem pendelt andauernd flexibel zwischen diesen verschiedenen Zuständen hin und her – je nach Situation.

aus der balance

Ist das autonome Nervensystem aus der Balance geraten, steckt entweder der Sympathikus im Kampf- und Fluchtmodus fest oder dorsale Vagus im Erstarrungs- oder Abschaltmodus. Manchmal sind auch beide gleichzeitig angeschaltet, was sich „erschöpft und unruhig“ äußert.

Unter „Nervensystem regulieren“ verstehe ich in diesem Zusammenhang: Das autonome Nervensystem ist so flexibel, dass es sich permanent der aktuellen Situation anpasst. Muss es kurzzeitig in den Überlebensmodus gehen, pendelt es sich anschließend so schnell wie möglich wieder in sein gesundes Gleichgewicht ein – es fühlt sich sicher genug an, das zu tun. Es reguliert sich selbst, viele Mal am Tag.

Steckt es im Überlebensmodus fest, so wie es bei Mind-Body-Syndromen der Fall ist, kann es sich selbst nicht mehr richtig regulieren, nicht mehr einpendeln. Da kommen dann die zahlreichen verschiedenen Techniken ins Spiel, die so viele von uns anwenden, um nachzuhelfen. Um dem Nervensystem zu helfen, sich selbst wieder zu regulieren.

regulieren

Es gibt Wege der Selbstregulation – man schafft es also, sich selbst wieder in Balance zu bringen, indem man ein Gefühl von Sicherheit erzeugt. Und es gibt Wege der Coregulation – die Nähe eines Menschen, Lebewesens, Dings oder der Natur strahlt Sicherheit aus. Das überträgt sich auf einem selbst, was das Nervensystem wieder in Balance bringt.

Es geht bei den ganzen Techniken aus meiner Sicht nicht nur darum, zu entspannen und auszuruhen, sondern wirklich zu spüren, welcher Teil des Nervensystems im Überlebensmodus feststeckt oder ob es sogar beide sind. Und dann durch entsprechende Methoden dem Nervensystem zu helfen, sich wieder einzupendeln. Dabei kann Entspannung helfen, aber auch Aktivierung oder einfach Stabilisieren.

Das Wort „Regulieren“ findet sich auch häufig bei Emotionen. Man soll lernen, seine Emotionen zu regulieren. Nach meinem Verständnis sind Emotionen Teil der Reaktionen des autonomen Nervensystems und damit ein wunderbarer Indikator dafür, in welchem Zustand sich das Nervensystem gerade befindet. Die Falle beim Thema „Emotionen regulieren“ ist: Man will vor allem unangenehme Emotionen wie Angst, Ärger und Traurigkeit „regulieren“ und unterdrückt diese Emotionen damit. Das kreiert aber neuen Stress für das Nervensystem. Die Kunst ist daher: Wahrnehmen, fühlen, zulassen, ein Weg des Regulierens finden, aber nicht wegschieben. Und: Alles, was das Nervensystem reguliert, reguliert auch Emotionen – und umgekehrt!

 

Wichtig: Die Aussagen in diesem Text sind das Ergebnis meiner Recherchen aus wissenschaftlichen Untersuchungen, Fachartikeln, Büchern, Kursen, Aus- und Weiterbildungen sowie meines eigenen Genesungsprozesses. Ich habe bestmöglich recherchiert, erhebe aber dennoch keinen Anspruch auf Richtigkeit. In der Wissenschaft gilt etwas solange als Hypothese, bis es eindeutig belegt (oder widerlegt) ist. Das ist dann Evidenz, ein Fakt. Die Aussagen in diesem Text sind eine Kombination aus Hypothesen und Fakten.
 
Die Inhalte auf dieser Seite dienen außerdem nur zu Informationszwecken und ersetzen nicht das Gespräch mit Ärztin, Arzt oder anderen Therapeuten. Bitte sprich mit deiner Ärztin, deinem Arzt oder Therapeuten, bevor du Entscheidungen triffst, die deine körperliche oder mentale Gesundheit betreffen. Jeder Weg in ein Mind-Body-Syndrom ist etwas Individuelles, und jeder Weg heraus.