Dr. Martina Melzer, veröffentlicht: 26.7.24
Wichtige Hinweise vorab:
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Gerade wer sich auf Instagram in der „Genesungsblase“ von ME/CFS und Long Covid bewegt, stößt
unweigerlich auf die „Polyvagal-Theorie“. Aber auch bei Fibromyalgie, Reizdarm und Themen wie Stress oder Trauma.
was ist die polyvagal-theorie?
Die Polyvagal-Theorie wurde vom US-amerikanischen Psychiater und Neurowissenschaftler Professor Stephen Porges entwickelt. Im Prinzip besagt sie, dass unser
autonomes Nervensystem nicht nur aus dem Sympathikus und Parasympathikus ( = Vagusnerv) besteht, sondern dass letzterer zusätzlich über zwei Hauptäste verfügt.
Der evolutionsgeschichtlich ältere Teil ist der sogenannte dorsale Vagus. Gemäß Porges` Theorie reichen seine Nervenfasern bis in die Organe unterhalb des Zwerchfells im Bauchraum. Der
evolutionsgeschichtlich jüngere Teil ist der ventrale Vagus. Seine Nervenfasern sind oberhalb des Zwerchfells lokalisiert und haben unter anderem Verbindungen zur Gesichts- und
Kehlkopfmuskulatur.
Die autonome Hierarchie
Laut Polyvagal-Theorie folgt das autonome Nervensystem einer Art Hierarchie, die man mit einer Leiter vergleichen kann. Ganz oben auf der Leiter befindet sich unser
autonomes Nervensystem in seinem gesunden Zustand.
Das bedeutet: Der ventrale Vagus ist aktiv. Gleichzeitig befindet sich der Sympathikus in seinem gesunden Zustand oder der dorsale Vagus. Der ventrale Vagus ist aktiv, wenn wir uns sicher fühlen.
Er signalisiert uns auch, dass wir uns einem anderen Menschen nähern und uns mit ihm verbinden können. Ist gleichzeitig der Sympathikus in seinem gesunden Zustand, fühlen wir uns voller Energie
und Tatendrang, sind motiviert und agil. Ist parallel der dorsale Vagus in seinem gesunden Zustand, können wir uns entspannen, ausruhen, herunterfahren, gut schlafen und verdauen, intim
werden.
In der Mitte der Leiter geht das autonome Nervensystem in den Überlebensmodus. Der ventrale Vagus wird geblockt, wir fühlen uns bedroht und in Gefahr. Der Sympathikus geht in seinen auf Dauer
ungesunden Kampf- und Fluchtmodus. Wir werden aggressiv, ängstlich, nervös, schwitzen vielleicht mehr oder frieren, zittern. Wir verbrennen viel Energie in diesem Zustand. Wir spannen unsere
Muskeln an und fahren die Verdauung herunter.
Wirkt die Gefahr groß und wir spüren: kämpfen und fliehen geht nicht, dann versetzt unser Nervensystem uns in den Erstarrrungszustand. Im Englischen heißt er „freeze mode“. Wir erstarren quasi
vor Angst, halten den Atem an, verstecken uns. Vielleicht zieht die Gefahr an uns vorüber. Der Sympathikus ist noch aktiv, der dorsale Vagus fährt bereits in seinen ungesunden Zustand hoch. Wir
befinden uns zwischen nervös und erschöpft, tired but wired.
Können wir uns einer (echten oder gefühlten) Gefahr nicht erwehren oder nicht vor ihr fliehen, gelangen wir ans untere Ende der Leiter. Wir können der Gefahr nicht entrinnen, wir sind ihr gefühlt
hilflos ausgeliefert. Hier springt der dorsale Vagus in seinen auf Dauer ungesunden Zustand. Er fährt alle Körpersysteme und Organfunktionen herunter, wir gehen in eine Art Energiesparmodus,
fühlen nicht mehr so viel, ziehen uns zurück.
Nervensystem umtrainieren
Menschen mit Mind-Body-Syndromen pendeln typischerweise zwischen ungesundem Sympathikus und ungesundem dorsalen Vagus hin und her. Diese Reaktionen passieren
unwillkürlich als Antwort auf eine Gefahr. Wir sind weder „schuld“ noch „verantwortlich“, dass wir so reagieren. Es ist einfach unser Nervensystem. Und das reagiert auf Reiz xy mit Antwort xy, so
wie es irgendwann früh im Leben gelernt hat, immer so auf genau den Reiz so zu reagieren. Durch belastende Kindheitserfahrungen, chronischen Stress und Traumata gibt es einfach immer mehr Reize, die Gehirn und
Nervensystem als gefährlich einstufen.
Indem wir unsere Selbstwahrnehmung schulen, unser Nervensystem kennenlernen und die ersten Signale spüren, ab wann es in den Überlebensmodus geht, können wir es umtrainieren. Wir können Gehirn
und Nervensystem beibringen, was wirklich gefährlich ist und was eigentlich sicher ist. Wir können
lernen, unser Nervensystem selbst besser zu regulieren und im Kontakt mit anderen Menschen (oder Haustieren).
Wichtig: Die Aussagen in diesem Text sind das Ergebnis meiner Recherchen aus wissenschaftlichen Untersuchungen, Fachartikeln, Büchern, Kursen, Aus- und
Weiterbildungen sowie meines eigenen Genesungsprozesses. Ich habe bestmöglich recherchiert, erhebe aber dennoch keinen Anspruch auf Richtigkeit. In der Wissenschaft gilt etwas solange als
Hypothese, bis es eindeutig belegt (oder widerlegt) ist. Das ist dann Evidenz, ein Fakt. Die Aussagen in diesem Text sind eine Kombination aus Hypothesen und Fakten.
Die Inhalte auf dieser Seite dienen außerdem nur zu Informationszwecken und ersetzen nicht das Gespräch mit Ärztin, Arzt oder anderen Therapeuten. Bitte sprich mit deiner Ärztin, deinem Arzt oder
Therapeuten, bevor du Entscheidungen triffst, die deine körperliche oder mentale Gesundheit betreffen. Jeder Weg in ein Mind-Body-Syndrom ist etwas Individuelles, und jeder Weg
heraus.