Dr. Martina Melzer, veröffentlicht: 08.02.25
Wichtige Hinweise vorab:
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Es sind zwei Chamäleons der Medizin: ME/CFS und das Post-Covid-Syndrom. Vermutlich gibt es bei beiden ebenso viele verschiedene Symptome wie diskutierte Ursachen
und mögliche Therapien. Wie kann das sein?
Was sagt die traditionelle Schulmedizin?
Kurz gesagt: Es sind (neuroimmunologische) Multisystemerkrankungen.
Genauer: Eine Infektion oder ein anderer Stressor löst eine Entzündung im Körper aus. Das führt – wenn nicht alles normal verläuft - zu einer Imbalance im Immunsystem mit schwelenden Entzündungen
im Körper und Gehirn und teilweise auch zu Autoimmunprozessen. Das geht mit oxidativem Stress, Fehlfunktionen und Störungen im Darmmikrobiom, im Herz-Kreislaufsystem und den Gefäßinnenwänden
einher. Ebenso kommt es zu Sauerstoffmangel im Gewebe und einem gestörten Energiestoffwechsel – beides im Gehirn und in Körpergeweben.
Es findet sich eine Fehlfunktion des autonomen Nervensystems (Dysautonomie) mit einer Dysbalance von Sympathikus und/oder Parasympathikus. Die sogenannte Stressachse schüttet zunächst zu viel und
zu lange Stresshormone wie Kortisol aus (um die Entzündungen einzudämmen), was später in eine erschöpfte Kortisolausschüttung mündet. Ist das Immunsystem beeinträchtigt, kann es zu
wiederkehrenden Infekten und/oder Reaktivierungen von Krankheitserregern kommen, die im Körper überdauern (vor allem Herpesviren).
Wenn ein Stressor das innere Gleichgewicht im Körper stört, können all diese Prozesse in Gang gesetzt werden. Im Rahmen der Fehlfunktionen können vorübergehend Gewebeschäden auftreten.
Der so charakteristische Energiemangel bei ME/CFS und Long Covid ist wahrscheinlich eine Folge von Sauerstoffmangel in Geweben, die bei Belastung benötigt werden (z.B. die Muskeln). Es folgt wohl
zunächst als Kompensation eine gesteigerte Energieproduktion und später eine heruntergefahrene, die zu einem hypometabolischen Zustand von Gehirn und Peripherie führt. Eine Fehlfunktion der
Mitochondrien lässt sich ebenfalls feststellen.
ME/CFS und das Post-Covid-Syndrom gelten bei einigen Wissenschaftler:innen primär als Störung des Gehirns (und Nervensystems), bei anderen vor allem als Störung des Immunsystems.
Der therapeutische Fokus liegt auf dem Krankheitsmanagement mit Pacing, Medikamenten und anderen potenziell hilfreichen Verfahren. Es wird davon ausgegangen, dass keine Heilung möglich
ist.
Was sagt die Mind-Body-Medizin?
Kurz gesagt: Es sind Störungen der Körper-Geist-Gehirn-Interaktion, die sich mit der Psychoneuroimmunologie erklären lassen.
Genauer: Die Mind-Body-Medizin beschäftigt sich als Teil der traditionellen Schulmedizin mit den Interaktionen zwischen Körper, Geist und Gehirn. Was dabei auf molekularer Ebene passiert,
beschreibt die Psychoneuroimmunologie.
Ein Stressor (oder mehrere) stört das innere Gleichgewicht (Homöostase), was zu den oben bereits beschriebenen Dysbalancen im Immunsystem, dem Herz-Kreislauf-System, dem Hormonsystem, dem
autonomen Nervensystem und dem Energiestoffwechsel führt. Dies wirkt sich auch auf die Psyche aus. Die Psychoneuroimmunologie geht davon aus, dass all diese Systeme untrennbar zusammenhängen. Was
immer ein System stört, stört alle (= Mind-Body-Syndrom). Befindet sich der Organismus in einem chronischen Stresszustand (=
autonomes Nervensystem im Überlebensmodus), kann er keine Homöostase mehr herstellen.
Der therapeutische Fokus liegt darauf, den Mensch als Ganzes zu sehen. Man versucht, herauszufinden, welche psychologischen und körperlichen Faktoren und Stressoren das innere Gleichgewicht
stören und wie sich dieses wiederherstellen lässt. Heilung ist prinzipiell möglich.
Was sagt die Neurowissenschaft?
Kurz gesagt: Es sind sogenannte neuroplastische Erkrankungen / Störungen.
Genauer: Die Neurowissenschaft beschäftigt sich mit Aufbau und Funktionen von Gehirn und Nervensystem. Bei chronischen Schmerzen gehen viele Neurowissenschaftler:innen inzwischen davon aus, dass
diese durch Neuroplastizität entstehen. Neuroplastizität heißt vereinfacht: Das Gehirn kann neue Dinge lernen und alte verlernen, es kann sich anpassen und verändern. Im Fall von chronischen
Schmerzen hat das Gehirn gelernt, auf bestimmte Situationen und Reize mit Schmerzen zu reagieren. Es bewertet die Reize und die Schmerzen als gefährlich – auch wenn eigentlich alles (wieder) okay
ist. Deshalb spricht man auch von neuroplastischen Schmerzen.
Einige Wissenschaftlerinnen und Ärzte haben diese Erkenntnisse auf Erkrankungen wie ME/CFS und Long Covid übertragen. Denn es werden dieselben Hirnregionen verändert wie bei den Schmerzen. Die
oben beschriebenen Veränderungen im Körper entstehen als Folge von Veränderungen in Gehirn und Nervensystem, die durch psychologische und körperliche Stressoren aus der Balance geraten sind.
Manche Forscherinnen blicken vorwiegend auf das Thema Neuroplastizität und Konditionierung (= Lernmechanismen), andere Wissenschaftler untersuchen vor allem die Zustände, in denen das autonome
Nervensystem vorliegen kann (Stichwort: Polyvagaltheorie, Überlebensmodus).
Der therapeutische Fokus liegt auf dem Verlernen der erlernten alten Reaktionen auf bestimmte Reize und
Situationen sowie dem Erlernen einer neuen Reaktion. Das Gehirn soll zum Beispiel lernen, dass es diese Dinge und auch die Symptome nicht mehr als gefährlich einstufen muss und diese auch
nicht mehr über das autonome Nervensystem auszulösen braucht. Ebenso gilt es, psychologische und körperliche Stressoren zu erkennen und Gehirn wie Nervensystem wieder in eine gesunde Balance zu
bringen. Der Mensch wird als Ganzes mit seiner Lebensgeschichte betrachtet. Heilung ist prinzipiell möglich.
Fazit: ME / CFS und Post-Covid-Syndrom = neuroimmunologische Multisystemerkrankungen = Dysautonomien = Mind-Body-Syndrome = neuroplastische Störungen. Wie man sieht, gibt es einfach verschiedene
Blickwinkel und Erklärungsansätze dafür, wie die ganzen Fehlfunktionen und Veränderungen entstehen. Und damit unterschiedliche Bezeichnungen und Behandlungsansätze.
Übrigens: Chronisch heißt nicht für immer. Menschen erholen sich von allen möglichen Krankheiten – oder verbessern ihren Zustand zumindest deutlich.
Wichtig: Die Aussagen in diesem Text sind das Ergebnis meiner Recherchen aus wissenschaftlichen Untersuchungen, Fachartikeln, Büchern, Kursen, Aus- und
Weiterbildungen sowie meines eigenen Genesungsprozesses. Ich habe bestmöglich recherchiert, erhebe aber dennoch keinen Anspruch auf Richtigkeit. In der Wissenschaft gilt etwas solange als
Hypothese, bis es eindeutig belegt (oder widerlegt) ist. Das ist dann Evidenz, ein Fakt. Die Aussagen in diesem Text sind eine Kombination aus Hypothesen und Fakten.
Die Inhalte auf dieser Seite dienen außerdem nur zu Informationszwecken und ersetzen nicht das Gespräch mit Ärztin, Arzt oder anderen Therapeuten. Bitte sprich mit deiner Ärztin, deinem Arzt oder
Therapeuten, bevor du Entscheidungen triffst, die deine körperliche oder mentale Gesundheit betreffen. Jeder Weg in ein Mind-Body-Syndrom ist etwas Individuelles, und jeder Weg
heraus.