Dr. Martina Melzer, aktualisiert: 31.07.24
Nach fast 15 Jahren mit ME/CFS und anderen Syndromen sowie fast 5 Jahren Genesungsreise kann ich mich als weitgehend genesen bezeichnen! Hurra! Wer hätte das
gedacht?!
Was hat mir zur weitgehenden Genesung verholfen? Im Prinzip waren es 3 Dinge: Ich musste meine Vergangenheit aufarbeiten, mein autonomes Nervensystem aus dem Überlebensmodus holen und die Dinge
in meinem Leben ändern, die ich ändern musste.
Doch zurück zum Anfang. Wie ging alles los? Es war Anfang Januar 2009. Ich erinnere mich gut an diesen Tag. Ich war mit meinem Partner in den Lechtaler Alpen unterwegs, wir wollten am Berg
fotografieren. Es lag viel Schnee, herrliches Wetter. Ich schnallte mir die Schneeschuhe an die Füße und den schweren Rucksack mit Fotoausrüstung auf den Rücken. Ich war müde, der Aufstieg
war steil, meine Beine fühlten sich wie Blei an. Als würde ich an jedem Bein einen 10 kg Betonblock hinter mit herziehen. Ich schwitzte furchtbar. War total erschöpft. Fühlte mich krank. Die
kleine Tour wurde zur Mount Everest-Besteigung.
Pfeiffersches Drüsenfieber
Wieder daheim lag ich mit Fieber, dicken Mandeln, Halsschmerzen, entzündeten Nebenhöhlen und schlimmen Kopfschmerzen im Bett. Die Ärztin tippte auf eine
Mandelentzündung und verschrieb ein Antibiotikum. Es half nicht. Stattdessen bekam ich einen Ganzkörperausschlag, der fürchterlich juckte. Ein anderer Arzt tippte auf Pfeiffersches
Drüsenfieber. Ein Bluttest bestätigt den Verdacht.
Mehrere Wochen lag ich im Grunde nur im Bett, ertrug keine Geräusche, kein Licht, konnte nur unter extremer Anstrengung die Wohnung verlassen. Danach fing ich sofort wieder an zu arbeiten, obwohl
mich mein Hausarzt davor warnte. Ich hatte so viel Angst, meinen Job zu verlieren. Diese Entscheidung war ein großer Fehler. Denn ich erholte mich einfach nicht von diesem Infekt. Ich quälte mich
jahrelang in meinen Vollzeitjob, zwang mich zum Sport. Ich war ständig erkältet oder hatte andere Infektionen. Ich war permanent furchtbar erschöpft, hatte Bauchbeschwerden, wurde immer
schwächer. Je mehr Sport ich machen wollte, desto schwächer wurde ich.
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ärzte-odyssee
Es begann eine Ärzte-Odyssee. Ich suchte Allgemeinärzte auf, Fachärzte, Privatärzte, war an Unikliniken, ging zu einer Ayurveda-Ärztin. Was hatte ich bloß? Die
Ärzte hatten keine Ahnung, ich auch nicht. Es folgte eine Untersuchung nach der anderen, ein Bluttest nach dem nächsten. Vieles auf eigene Kosten. Da man nichts fand, war die Schlussfolgerung:
„Sie haben eine Depression“, „Sie haben einen Burnout“, „Sie sind gesund, wir finden nichts (= es ist alles in Ihrem Kopf)“.
Ich war total verzweifelt und bekam immer mehr Symptome und Syndrome. Reizdarm, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Leaky gut, Restless legs, chronische Sinusitis, fibromyalgiartige
Nervenschmerzen, Muskelschmerzen, Kopfschmerzen, Schmerzen aller Art. Ich sah verschwommen, mein Hirn war vernebelt (Brainfog), ich schwitzte und fror zugleich, hatte eiskalte blaue oder
weißliche Hände und Füße (Morbus Raynauld), bekam Herzrhythmusstörungen, schlief total schlecht und hatte ständig Probleme mit Unterzucker. Ich bekam schreckliche Hautausschläge an Armen und
Beinen, die fürchterlich juckten. Ich könnte jetzt noch ungefähr 38 weitere Symptome aufzählen. Kurz gesagt: Ich war ein Wrack.
2014 hörte ich das erste Mal vom Chronischen Fatigue Syndrom. Ich las den Artikel eines Kollegen und dachte mir: Genau das habe ich. Doch alle Ärztinnen und Ärzte, die ich fragte, kannten sich
damit nicht aus. Kommentare wie „Das gibt’s nicht“, „Das haben nur Krebspatienten“, „Das ist eine Modediagnose“ stärkten nicht gerade mein Selbstvertrauen und das in die Ärzte.
11 jahre, 33 ärzte
Es sollte knapp 11 Jahre dauern und - wenn ich mich nicht verzählt habe – 33 Ärzte brauchen, bis ich in Wien die Diagnose ME/CFS bekam. Und ich gefühlt das erste
Mal in meinem Leben einem Arzt gegenüber saß, der mich verstand, die Symptome erklärte, mich ernst nahm und weitere Untersuchungen vorschlug. Ich war so erleichtert. Nein, ich spinnte nicht. Ich
hatte wirklich etwas. Wenige Wochen später war dann auch ziemlich klar, dass ich ein weiteres Syndrom auf meine Liste setzen konnte: POTS, also das Posturale Orthostatische
Tachykardiesyndrom.
Es war 2019 und ich am vorläufigen Tiefpunkt meiner Erkrankung angelangt. Auch wenn die Standard-Bluttests nichts Auffälliges ergaben, war mein Körper voller Entzündungen. Sport hatte ich
aufgegeben, auch Spazierengehen, Arbeiten war nur noch in Teilzeit möglich und auch nur, weil mein Arbeitgeber größtmögliche Rücksicht auf mich nahm. Es gab Tage, an denen wollte ich einmal ums
Haus gehen, brach aber zusammen. Ich kroch auf allen Vieren durchs Wohnzimmer, ich schlief am Esstisch vor der Suppe ein, war zu schwach zum Essen, ich hielt mich an den Wänden fest, um nicht zu
stürzen, die Treppe krabbelte ich sitzend oder auf allen Vieren rauf und runter, Duschen war so anstrengend, dass ich mich eine Stunde hinlegen musste. Das war kein Leben mehr.
Der ME/CFS-Spezialist sagte mir, bei dieser Krankheit könne man nicht viel machen, und sie sei nicht heilbar. Pacing sei das A und O, Nahrungsergänzungsmittel könne man austesten, ein paar
Medikamente seien in Erprobung. Es tue ihm wirklich leid, dass er nicht mehr für mich tun könne.
Pacing war meine erste Rettung, um die stetige Verschlechterung meines Zustands auszubremsen. Ich wurde besessen von diesem Thema. Überwachte meine Aktivitäten, meine Pausen, notierte, was ich
aß, schrieb meine Symptome und deren Intensität auf. Ich hatte zwei volle Ordner mit Protokollen! Es dauerte dennoch ein Jahr, bis ich Pacing einigermaßen konnte. Und ich crashte trotzdem
regelmäßig. Ich reduzierte weiter Arbeitsstunden, kaufte für Hunderte von Euro alle möglichen Vitaminpillen, die aber nicht halfen. Was meinem Darm half, war eine Ernährungsumstellung.
Ich suchte weiter Ärzte auf, ließ mich auf Anraten einer Ärztin in ein Reha-Krankenhaus einweisen, das sich angeblich mit ME/CFS auskannte. Leider setzte man dort voll auf Aktivierung, ich bekam ein Ganztagesprogramm, brach zusammen. Die Chefärztin meinte: „Ich glaube Ihnen nicht, dass Sie nicht 15 Minuten auf das Fahrradergometer gehen können.“ Und: „Die Behandlung hat Ihnen nicht geholfen, weil sie unsere hochwirksamen Homöopathika nicht nehmen wollten“. Ich ließ mich sogar zu einer Hitzeanwendung überreden, die mein System dann endgültig in den Notfallmodus versetzte. Mein Partner sagt: „Das war deine schlimmste Zeit.“
Motto: Nicht aufgeben
Doch ich gab nicht auf. Nicht aufgeben wurde zu meinem Motto. Ein weiteres Motto wurde: Genesung ist möglich. Ich werde gesund. Irgendwie. Durch eine glückliche
Eingebung lud ich Instagram aufs Handy und eröffnete einen Account. So fand ich auf einmal immer mehr Menschen, die genesen waren. Die Erste war Raelan Agle mit ihrem damals ganz neuen
YouTube-Kanal, auf dem sie inzwischen weit über 100 Genesungsgeschichten (Stand: August 2023) veröffentlicht hat. In einem Video sagte jemand: „Nicht ME/CFS, sondern ME/CFS Recovery googeln“.
Da wäre ich von selbst nicht darauf gekommen. Dann stieß ich auf Liz Carlson mit ihrem großartigen Blog „Heal
with Liz“. Ich las jeden ihrer Artikel. Dann fand ich Dan Neuffer, der sich ebenfalls von ME/CFS und Fibromyalgie erholt hatte. Er betreibt das Programm ANS Rewire, an dem ich teilnahm und das nach Pacing die Grundlage für meine Genesungsreise werden sollte. Mein Zustand besserte sich zum
ersten Mal seit einem Jahrzehnt.
Inzwischen hatten wir 2020. Die Covid-19-Pandemie begann. Ich konnte zu 100 Prozent im Home-Office arbeiten, was meine Rettung war. So konnte ich im Wechsel arbeiten und ausruhen. Ich reduzierte
weiter Stunden. Ich war hoffnungsvoll. Es ging bergauf, sehr langsam, aber es ging etwas bergauf. Ich machte weitere Kurse und Programme, um mein Wissen zum autonomen
Nervensystem und Dingen wie Neuroplastizität und Gehirntraining zu vertiefen.
2021 gab es einen zweiten Tiefpunkt, einen tiefgreifenden. Erst starb ein geliebter Mensch ganz plötzlich und auf tragische Weise. Wenige Wochen später stellte sich heraus, dass nicht nur
chronischer Stress, sondern auch traumatische Erlebnisse, belastende Kindheitserfahrungen und das Thema Narzissmus mich so krank gemacht hatten. Und, dass ich nicht nur ME/CFS, POTS, einen
Reizdarm und vermutlich Fibromyalgie (ich hatte sicher so etwas, verzichtete aber auf weitere Ärzte-Marathons) hatte, sondern auch eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS). Das
warf mich erstmal deutlich zurück, verursachte viele Crashs und neue Symptome. Ich bekam schreckliche Albträume, Flashbacks, mir fielen die Haare aus, mein Zyklus spielte verrückt, ich hatte
Panikattacken, Bauchkrämpfe, Hypervigilanz, nächtliche Heißhungerattacken und mehr. Außerdem stellte sich heraus, dass ich ein Mensch mit Hochsensibilität bin.
Innere Arbeit
Diese schlimmste Zeit meines bisherigen Lebens war dennoch der Wendepunkt auf meiner Genesungsreise. Nun wusste ich, warum ich so viele Syndrome hatte. Es war nicht
das Virus, sondern es waren Jahrzehnte voller Stress, angefangen in der Kindheit (wie bei so vielen Menschen). Weitere traumatische Erlebnisse wie ein lebensbedrohlicher Reitunfall kamen hinzu.
Das Epstein-Barr-Virus brachte das Fass nur zum Überlaufen. Mir war klar: Alle meine Syndrome hängen zusammen, sind ein und dasselbe, haben dieselben Ursachen und Krankheitsmechanismen. Später
fand ich auch den übergeordneten Namen dafür: Ich hatte mehrere Formen des Mind-Body-Syndroms, eine Störung, eine Fehlfunktion von Körper, Geist und Gehirn.
Ich wusste nun aber auch, was ich tun musste, um gesund zu werden: Meine Vergangenheit aufarbeiten, mir selbst und anderen Menschen Grenzen setzen, eine für mich ungesunde Beziehung ändern,
Verhaltensweisen ändern, meinen Lebensstil ändern, Stressfaktoren identifizieren, Glaubenssätze hinterfragen, Zugang zu unterdrückten Emotionen finden, diese
zulassen, herauslassen und loslassen, innere Konflikte erkennen, mich meinen Triggern und Ängsten stellen, mein Gehirn und mein autonomes Nervensystem aus dem Überlebensmodus holen, mir
klarwerden wer ich bin und wer ich sein will, welches Leben ich habe und welches ich haben möchte. Es war also sehr viel innere Arbeit nötig. Und ich vertiefte mich
in Themen wie Stress, Trauma, Mind-Body Medizin und Polyvagal-Theorie.
Dieser Prozess hat über zwei Jahre in Anspruch genommen und ist noch nicht zu Ende. Ich habe mich wirklich jeden Tag alleine oder mit Unterstützung einer Psychotherapeutin und anderer
Therapeutinnen durch diese Themen gekämpft, ja, gekämpft. Jeden einzelnen Tag. Ich habe oft in Genesungsgeschichten und in Dans Programm gehört, man solle nicht mehr kämpfen, sondern ins
Akzeptieren kommen, ins Annehmen, um die Selbstheilungskräfte anzuregen. Mein Weg war das nicht. Ich musste mich aus vielen krankmachenden und krankhaltenden Dingen wirklich herauskämpfen. Es war
der Kampf meines Lebens. Das hat furchtbar viel Kraft gekostet und ging letztlich nur durch eine langfristige Krankschreibung.
Zwei Jahre nach dem schrecklichen Ereignis 2021 kam ich zu einem Punkt, an dem ich das Gefühl hatte: Ich habe das Schlimmste hinter mir. Ich habe die großen Themen meines Lebens bearbeitet. Ich
habe es geschafft. Es folgten einige Wochen tiefer Erschöpfung, die jedoch anders war als die ME/CFS-Fatigue. Mein Körper erholte sich vom Kämpfen, ich fühlte mich erleichtert, dankbar, stolz.
Meine Güte, was ich alles hinter mir hatte. Ich konnte endlich den Blick von der Vergangenheit nehmen und nach vorne schauen. Ich hatte nun die nötige innere Stärke, weitere Dinge zu ändern. Ich
begann, mich den größten Triggern und Ängsten zu stellen, weitere Grenzen zu ziehen, meinen langjährigen Job zu kündigen.
TRE / neurogenes zittern
Ein Trigger war so massiv, dass ich den bislang heftigsten Flashback bekam. Ich wendete alle Techniken an, die ich kannte. Und das waren viele – körperliche wie
mentale. Aber nichts half. Nichts holte mich aus dem Überlebensmodus heraus. Ich war am Verzweifeln. Dann behandelte ein Therapeut die alte Narbe, die ich von meinem Reitunfall hatte. Es war der
Ratschlag meines Atem-Coaches, das zu tun. Schon auf der Heimfahrt bemerkte ich, dass irgendetwas in mir im Gange war. Wieder daheim erinnerte ich mich spontan an spezielle Körperübungen, die ich
schon 2022 ausprobiert hatte: Trauma and Tension Releasing Exercises (TRE), Deutsch: neurogenes Zittern.
Ich setzte mich auf die Couch und wartete einfach, verzweifelt, angestrengt von der Narbenbehandlung. Plötzlich begann mein Körper sich zu bewegen, ich zitterte, schüttelte mich, machte die
wildesten Bewegungen. Es brauchte keine Übungen mehr, um mein Gehirn, mein Nervensystem, meinen Körper in Bewegung zu bringen. Er machte das ganz von selbst. Drei Wochen später wusste ich: Ich
bin weitgehend gesund. Mein Körper hat sich aus dem Erstarrungs- und Abschaltmodus des Nervensystems herausgeschüttelt. Plötzlich hatte ich Unmengen an Energie, wollte am liebsten losrennen, mein
Körper war geflutet von Glückshormonen, von Woche zu Woche verschwand ein Symptom nach dem anderen. Und endlich griffen auch all meine Gehirntraining-Methoden! Und die Physiotherapie schlug an!
Und ich fing an, Muskeln aufzubauen und Kondition! Und ich konnte wieder lachen, kleine Ausflüge machen, leben! Meine Güte. Unfassbar.
Ich kann nicht sagen, ob die Narbenbehandlung der Auslöser war, ob es der Trigger war, oder ob alles Zufall war. Jedenfalls brachte der Abend nach der Behandlung, als ich nicht mehr wusste, wie
ich aus dem Flashback herauskommen sollte, endgültig die Wendung. Seitdem geht es bergauf. Ich bin körperlich noch recht unfit, das braucht Zeit. Mein Nervensystem muss sich noch besser
einpendeln, auch das braucht Zeit. Aber inzwischen kann ich sagen: ME/CFS, POTS und Fibromyalgie spielen keine nennenswerte Rolle mehr. Was weiterhin Aufmerksamkeit braucht, ist mein Bauch und
die kPTBS.
Deshalb geht die Reise weiter. Und deshalb bezeichne ich mich noch nicht als vollständig genesen, sondern als weitgehend. Ich genese weiter. Genesung ist ein Prozess. Sich selbst und sein Leben
zu ändern ist ein Prozess. Das Gehirn und Nervensystem in Balance zu bringen ist ein Prozess. Stress besser zu bewältigen ist ein Prozess. Letztlich ist doch das ganze Leben ein Prozess, oder
nicht? Und manche inneren Wunden heilen vermutlich ein Leben lang.
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